Ein Brief an den Schamanismus

Lieber „Schamanismus“!

Es gibt Worte, die benutzen wir emotionslos. Neutrale Worte wie „Stuhl“, „Jahreszahl“ oder „Wäscheleine“.

Und dann gibt es Worte, die tragen Energie in sich. Worte wie „Mutter“, „Ehe“ oder „Erfolg“. Eingefärbt durch unsere Prägungen und Erfahrungen lösen sie Gefühle in uns aus, oft sogar sehr starke.

Lieber „Schamanismus“, für mich bist du so ein Wort. Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu dir, und das, seitdem ich dich kenne.

Grafik: schreibende Hand, Brief und Anrede: Lieber Schamanismus

Du faszinierst mich seit meiner Jugend

Ich weiss noch, dass du mich schon als Jugendliche und junge Frau fasziniert hast. Ich sog Geschichten von schamanischen Heilerinnen und Heilern auf. Das Unerklärliche ihrer Heilkunst und die grosse Kraft, die sich darin offenbarte, beeindruckten mich sehr.

Gleichzeitig spürte ich auch grossen Respekt. Ich erinnere mich beispielsweise an den Dokumentarfilm über eine Schamanin, die sich in stundenlangen Trancen für ihre Klient:innen verausgabte. Oder den Bericht über eine Frau in Sibirien, die sich erst zu ihrer schamanischen Bestimmung bekannte, als sie schwer krank wurde. Das tat sie, obwohl das Regime den Schamanismus nicht gut hiess und sie sich damit selber in Gefahr brachte.

Du warst für mich damals auch immer geheimnisvoll und unheimlich. Es waren die 80er und 90er Jahre und Schaman:innen wurden in den Medien gerne rauchumschwängert und düster dargestellt.

Mein Schlüsselerlebnis mit dem Schamanismus

Lieber „Schamanismus“, mein Schlüsselerlebnis hatte ich mit dir dann Jahrzehnte später.

Ich besuchte eine Weiterbildung in „stellvertretenden Rückführungen“. Wir lernten, stellvertretend für andere in ihre früheren Leben zu reisen. Zu Beginn jeder Reise sollten wir eine goldene Treppe visualisieren, die wir hinaufstiegen. Wir sollten uns eine dichte Wolkenschicht vorstellen, durch die wir hindurchliefen, bevor wir in der Geistigen Welt ankamen.

Der Seminarleiter erzählte uns, dass dies auch typisch für den Schamanismus sei, dass man eine Schwelle übertreten müsse, um in Kontakt mit der Geistigen Welt zu treten.

Voilá - da warst du wieder! Es war nur eine kleine Anmerkung über dich, aber sie brachte etwas in mir zum Klingen, und zu Hause suchte ich nach schamanischen Angeboten. Schnell stiess ich auf Alberto Villoldo und kurze Zeit später reiste ich zu einer einmonatigen Intensiv-Ausbildung ins Allgäu.

Liebe auf das erste Ritual

Und was soll ich sagen? Vom ersten Moment an verliebte ich mich in die Schönheit, Kraft und Magie deiner Rituale. Ich fand nicht nur Antworten auf meine persönlichen Fragen und heilte alte Wunden, sondern wünschte mir sofort, deine Welt auch anderen zu eröffnen.

Alberto Villoldo ermutigte uns dazu, dies früher als später zu beginnen und unsere Rolle als „Schaman:innen“ einzunehmen. Aber da war er immer noch, mein grosser Respekt vor dir, dem „Schamanismus“. Durfte ich mich „Schamanin“ nennen, ich, die ich weder in diese Bestimmung hineingeboren noch als Kind oder Jugendliche darin initiiert worden war?

Was mir damals sehr gefiel, war der Begriff der „inneren Schamanin“, des „inneren Schamanen“. Wir würden alle eine Urweisheit in uns tragen, an die wir uns nur erinnern müssten. Damit konnte ich mich identifizieren und eine Brücke zu dir schlagen.

So nannte ich mich eine Weile „schamanische Impulsgeberin“ und „schamanische Coachin“.

ein Abschied auf Zeit

Dann aber, lieber „Schamanismus“, fand ich zu meinem zweiten Lehrer, Illaripa. Er hat ein feines Gespür dafür, wenn Begriffe rund um die Andentradition auf ihrem Weg in die westliche Kultur hinein verwässern und an ihrer ursprünglichen Kraft verlieren. Von ihm lernte ich, wie wirk-kräftig Worte sein können und wurde in meiner mir eigenen Angewohnheit, Worte zu hinterfragen, bekräftigt.

Illaripa lud uns dazu ein, uns von dir als Wort zu verabschieden, da du auch von Menschen benutzt wirst, die andere manipulieren wollen. Von dem sogenannten „schwarzen Schamanismus“ hatte ich schon von Alberto Villoldo gehört und es war mir sehr wichtig, mich eindeutig von ihm abzugrenzen.

Schlüsselwort „Schamanismus“

So strich ich dich für eine Zeit lang aus meinem Wortschatz. Und das war gut. Durch den bewussten Abschied konnte ich dich aus der Ferne betrachten und feststellen, dass du mir fehltest. Ich spürte bei all meinen widersprüchlichen Gefühlen dir gegenüber eine starke Verbindung, fast so etwas wie Liebe. Denn ich bin all dem, was sich durch dich für mich und meinem Leben eröffnet hat, sehr, sehr dankbar. Du warst es damals, das mir damals in der Weiterbildung zur stellvertretenden Rückführung begegnet bist, ein Schlüsselwort mit ungeahnten Folgen.

Und ich glaube, dass du auch für andere ein solches Schlüsselwort bist, auf ihrer Suche nach Antworten und Lösungen.

Deshalb bist du wieder da in meinem Wortschatz. Du hast eine lange Reise durch mein Bewusstsein unternommen und wirst mit mir ganz sicher noch einige Abenteuer erleben. Für heute freue ich mich, dass du wieder bei mir angekommen bist!

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